Robert Menasse

Vorwort zum Katalog „Claus Prokop“ 1998

 

Ich war schon die längste Zeit sehr kurzsichtig gewesen, als in meinem vierzehnten Lebensjahr endlich meine Sehschwäche erkannt wurde.

In der Schule galt ich als eigenbrötlerisch, weil ich nicht in mein Heft kopierte, was der Lehrer an die Tafel schrieb – ich konnte es ja nicht sehen. Wenn ich merkte, daß alle schrieben, schrieb ich, was mir gerade einfiel oder zeichnete einfach Muster in mein Heft. Ich kopierte also nicht das zu Kopierende, sondern die Kopierenden.

Beim Fußballspielen galt ich als eigensinnig, weil ich, wenn ich den Ball hatte, nicht abspielte: Ich sah die freien Mitspieler nicht. Wenn ich merkte, daß in meiner Nähe Mit– und Gegenspieler zu laufen begannen, lief ich augenblicklich in die selbe Richtung. Ich spielte also nicht mit, sondern spielte einen Mitspieler.

Was ich im Grunde immer sah, waren Muster, Raster, Ornamente, Farbanordnungen. Weiß auf Schwarz an der Tafel, oder die sich zueinander gruppierenden Farben der Dressen auf dem Fußballplatz. Dann wurde mir eine Brille verschrieben. Kopfschüttelnd wurde die Dioptrienzahl festgestellt, die ich benötigte. Warum ich denn nie etwas gesagt, warum ich nicht selbst darauf hingewiesen hätte, wie schlecht ich sehe? Wie hätte ich das tun können? Für mich war das, was ich sah und wie ich es sah, meine Realität und ich hatte keine andere gekannt. Ich hatte gelernt schlecht sehend sehr genau zu schauen und mich in dem, was ich wahrnahm, zu bewegen. Mit der Brille wurde meine Realität gegenständlich – und das Erstaunliche war, daß sie mir dadurch zunächst zerfiel. Nun sah ich zum Beispiel am Hinterkopf des Lehrers, der an der Tafel schrieb, eine sich lichtende Haarstelle, oder ich sah eine Hautunreinheit in seinem Nacken, was mir das Gefühl von Harmonie, die bislang im Ganzen zu liegen schien, raubte, und das zerstörte auch den Eindruck von der Sinnhaftigkeit jedes Tupfens, jedes Flecks, kurz: jedes Teilchens für die Anordnung des Ganzen. Oder ich sah in den Lichtbahnen, die manchmal durch die Fenster hereinfielen, den Staub tanzen – das war kein Licht mehr, das in diesem dunkel möblierten, nach Schweiß und Lysoform stinkenden Klassenzimmer Streifen um Streifen eine erhellende Ordnung für die Augen machte, sondern davon ablenkte. Ins Licht gesetzt waren jetzt die belanglosesten Partikel.

Es ist seltsam, daß die Anordnung von Licht und Schatten, von Farben und Flächen nicht präziser erschien, als ich mit meiner Brille zu sehen lernte, sondern im Gegenteil unklarer und in ihrer Struktur verschwommener. Ich mußte nicht nur lernen, neu zu sehen, sondern vor allem auch – um endlich sehend überhaupt erst sehen zu können – zweifach zu sehen: Die Vielfalt und irgendwo darin die gewohnte Reduktion und Abstraktion. Ich lernte also nicht nur im Licht die Staubpartikel zu sehen, sondern, viel entscheidender, dann wieder trotz Staubpartikel das Licht.

Ich glaube, daß Claus Prokop nichts anderes tut, als dies: Mit Mißtrauen gegenüber der „eigenen Brille“ alles neu zu sehen – und sich im Neugesehenen mit den Sehgewohnheiten auseinander zu setzen, sich durch sie im Ungewohnten zu orientieren. Er sieht zweifach und lenkt auch unseren Blick auf dieses zweifache Sehen: Er sieht Muster und Raster, wo Leben ist, und er sieht das Abbild des Lebens in dem, was wir mit Strukturen versehen. Kunst als Reflexion der Wirklichkeit ist immer eine Reflexion von Reflexionen – Wirklichkeit ist nicht anders zu haben: Sie ist bereits eine Reflexion, wenn wir sie zu reflektieren beginnen. Eine Reflexion der Reflexion ist aber zugleich deren Aufhebung, kein Bild, sondern Bild der Bilder, kein Gedanke, sondern Gedanke von Gedanken, also Raster, Muster, Struktur. Aber jedes Raster ist löchrig, und so mächtig die Sehgewohnheiten auch sind, sie funktionieren wie ein Sieb, durch die alles durchrinnt und sich zu neuen Mustern anordnet, was in ihm nicht aufgehoben sein kann.

Claus Prokop ist so eigenbrötlerisch und eigensinnig, wie ich es war, bevor ich zu sehen lernte. Er allerdings ist es auf hellsichtige Weise. Das sehe ich.

Robert Menasse 

Preface to the catalogue „Claus Prokop“ 1998

 

I had been shortsighted for a long time until, at the age of fourteen, my poor eyesight was diagnosed at last.

In school, I was considered an oddball because I did not copy into my notebook what the teacher was writing onto the blackboard - in fact, I could not see it. Whenever I realized that everybody else was writing, I wrote down whatever came to my mind or drew patterns in my notebook. In other words, I did not copy what was to be copied, but copied those copying.

At soccer, I was considered a maverick because whenever I had the ball I did not pass it on: I could not see my teammates in the clear. Whenever I realized that players around me started to run, I instantly started to run in the same direction. In other words, I did not play the game, but played a player.

What I did see were basically patterns, grids, ornaments, arrays of colors: chalk-white on the blackboard or the cluster-forming colors of the shirts on the soccer field. Then I was prescribed glasses. The number of diopters I needed caused a shaking of heads. Why hadn't I said anything, why hadn't I indicated how weak my sight was? How could I? For me, what I saw, and how I saw it, was my reality, and I had never known any other. I had learnt to take a close look with a weak eyesight and to move around in what I could make out. With the glasses, my reality moved into focus - and the astonishing thing about it was that reality seemed to disintegrate at first. Now I could see a bald spot on the back of the teacher's head, while he was writing on the blackboard; or I saw a blemish on his neck, which deprived me of the feeling of harmony that had hitherto been found in the whole, and this shattered the impression of the purposefulness of every dot and every spot, in brief: every single particle, for the order of the whole. Or I saw dust dance in the shafts of light that sometimes fell through the windows - this was no longer light that created an enlightening stripe-by-stripe orientation for the eyes in this classroom with its dark furniture and that smell of sweat and Lysol, but rather a diversion. The most insignificant particles were cast in full light.

Strangely enough, when I learnt to see through my glasses, the array of light and shadow, of colors and surfaces did not seem more distinct, but, on the contrary, less clear and somewhat blurred in its structure. Not only did I have to learn to see things anew, but rather - in order to see anything at all, now that I could see at last - to see them with a sort of double vison: the diversity and, somewhere in it, the familiar reduction and abstraction. Thus I did not only learn to see the dust particles in the light, but, more importantly, to see the light again through the dust.

I think that this is what Claus Prokop does: to see things anew, distrusting his "own glasses" - questioning visual habits through a new view and taking his bearings of them in the unfamiliar. He has a double vision which he also directs our gaze: he sees patterns and grids where there is life and he sees an image of life in what we perceive in terms of structures. Art as a reflection of reality is always a reflection of reflections - reality is not to be had otherwise: it already is a reflection as soon as we start to reflect it. The reflection of a reflection, however, is its neutralization at the same time; not an image, but the image of images, not an idea, but the idea of ideas, in other words: a grid, a pattern, a structure. But any grid has holes in it; and however powerful visual habits may be, they work like a sieve, and anything they cannot hold will run through and arrange in new patterns.

Claus Prokop is as much of an oddball and a maverick as I was before I learnt to see. However, he is it in a clairvoyant way. I can see that.